You are currently viewing Ein besonderer Urlaub

Ein besonderer Urlaub

Herbstferien Anfang Oktober 2022

Die perfekte Zeit für einen Aufenthalt auf der traumhaften Insel Sardinien. Wir könnten fliegen und wie in den Jahren zuvor ein Appartement buchen, um 14 Tage die ortsnahen Strände zu genießen. Lesen, faulenzen und entspannen. Urlaub eben.

Aber „Fliegen“ kommt für meinen Mann in diesen Zeiten nicht in Frage.  „Dann lass uns was Neues ausprobieren!“ 

Lass uns einen CamperVan ausleihen und damit nach Sardinien und über die Insel fahren. Echtes „Van-Life“ kennenlernen. Jede Nacht auf einem anderen Campingplatz, um möglichst viel zu sehen. Der Weg als Ziel. 3500 Kilometer in 14 Tagen. Lass uns was Neues ausprobieren. 

Im Herbst 2021 beginnen wir ein Jahr vorher mit der Planung.

Der Zusammenbruch

In einem Jahr kann viel passieren. Den Herausforderungen in meinem ersten Schuljahr bin ich plötzlich nicht mehr gewachsen. Nach fast 30 Jahren geliebter Grundschularbeit verliere ich – für mich unerwartet – meine LehrKRAFT. 

Im Frühjahr 2022 kommt es zum Zusammenbruch. 

Mit viel Glück bekomme ich schon im Mai einen Platz in der Tagesklinik am Phönixsee. Die Schematherapie zeigt mir schnell, dass nicht nur die Umstände in der Schule, sondern vor allem, die von mir in der Kindheit entwickelten Schemata und Glaubenssätze eine Rolle spielen. 

Ich beginne, Zusammenhänge aus der Kindheit, mit mir eigenen Verhaltensweisen herzustellen. Ich erkenne, wie Verhaltensweisen sich entwickelt haben und welche Schutzfunktion sie einmal hatten. Tatsächlich fühle ich mich phasenweise als kleines ungeschütztes Kind. Ich erkenne mein SCHAUSPIEL von Selbstsicherheit und Stärke, in das ich mein Leben lang eine immense, kräftezehrende Energie gesteckt habe. Ich erkenne dahinter den verzweifelten Versuch, meine Bedürfnisse nach Anerkennung, Liebe und Harmonie, aber vor allem auch nach SelbstWERT zu beruhigen. Ich erkenne plötzlich meine Glaubenssätze: „Du darfst keine Fehler machen“, „Du kannst für dich KEINE Verantwortung übernehmen“, „Du bist blöd/ dumm“ „Deine Gefühle sind nicht richtig“, „Du musst es anderen recht machen“ „Du bist nicht richtig“. Mit der Erkenntnis kommt die Angst.

Es ist nichts da an Selbstwert in mir. 

Ich kann nicht arbeiten gehen. Ich sitze zuhause und starre in den Garten. Ich fühle mich kraft- und wertlos.

Ich habe Angst vor allem.

Ich entscheide mich, etwas zu verändern.

Ich brauche neue Verhaltensmodelle! Ich brauche Aufgaben!

Am schwierigsten ist es, meine persönlichen Aufgaben zu erkennen. Niemand sagt sie mir. 

Die Analyse meiner dysfunktionalen Verhaltensweisen, die immer die Aufgabe hatten, mich zu beruhigen, nimmt die meiste Zeit in Anspruch und wird auch kein Ende nehmen. Erst wenn ich sie wahrnehme, habe ich die Möglichkeit etwas zu verändern. Der Urlaub nach Sardinien, geplant vor meinem Zusammenbruch, erweist sich als große Übungsplattform

Zielorientiertes LEIDEN ist eine Ressource!“ sagte Dr. Pastushenko. 

Der Sardinienurlaub erweist sich geballt als „LEIDEN mit KONZEPT!“  

Leiden mit Konzept

„Ich kann für mich keine Verantwortung übernehmen“ und „Ich darf keine Fehler machen“. Zwei meiner wichtigsten Glaubenssätze. Meinem Mann übertrug ich von Anfang an die Verantwortung für mich. Die Konflikte, die dieser Glaubenssatz in unserer Ehe mit sich brachte, würden ein Buch füllen. Für Urlaube jeder Art bedeutete es, dass ausschließlich mein Mann fuhr. Obwohl ich eine gute Autofahrerin bin, war ich überzeugt davon, dass die weiten und unbekannten Urlaubsstrecken nur von meinem Mann bewältigt werden konnten und das auch in seiner Verantwortung lag. Ein unbekanntes Fahrzeug zu fahren, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Unmöglich. 

Aufgabe Angstbewältigung

Ich starte direkt beim Abholen des Campers mit der Probefahrt.  OMG. Zittern und Konzentrieren. Die Angst irgendwo vorzufahren ist mächtig. Anspannung bei 10!  Ich fahre direkt weiter. Von Bochum nach Dortmund zum ADAC. Beim ADAC auf die Waage. Rückwärts wieder runter. Zuhause bin ich fix und fertig, aber sehr stolz. Wir packen den Wagen und am nächsten Morgen fahre ich direkt die erste Tour. Es ist dunkel. Es regnet. Niemals wäre ich früher bei diesen Bedingungen gefahren. Niemals. Wieder bin ich aufgeregt. Aber die Anspannung liegt nur noch bei 6. Ich fahre vier Stunden am Stück durch. Starkregen auf der Autobahn und im Konvoi mit zwei anderen Wagen. Und: Ich fahre plötzlich gerne. Ich entspanne mich tatsächlich und finde es großartig. Ich weiß jetzt, dass ich es kann. Ich bin zwar erschöpft, aber die Anspannung ist auf 0! Tatsächlich! Unglaublich!

Es gibt eine weitere Angst, die es in diesem Urlaub zu bewältigen gilt. Die Angst davor, die eigenen Bedürfnisse nicht schützen oder ausleben zu können. Ich hatte es vorher schon geahnt, wenn ich an die unvorhersehbaren Toilettensituationen dachte. Als ich dann am ersten Abend und am nächsten Morgen auf den Massentoiletten des ersten Campingplatzes saß, wollte ich den Urlaub eigentlich abbrechen. Die Anspannung war mit jeder weiteren Person, die den Toilettenraum betrat und bei mir für spontane Verstopfung sorgte, direkt auf 10! „Meine Bedürfnisse und Gefühle sind nicht richtig und spielen keine Rolle“ auch so ein Glaubenssatz in meinem Kopf. Also: „Unterdrücken!“ „Reiß dich zusammen!“ sind die ersten Gedanken. Nein! Der Schmerz will raus! Der Schmerz will gehört werden! Ich lasse meinen Tränen ihren Lauf und gehe unverrichteter Dinge zurück zur Gruppe. Dort werde ich liebevoll aufgefangen und erfahre, dass ich in dieser Angelegenheit nicht besonders besonders bin und meine Gefühle auch nicht falsch. Den anderen geht es wie mir. Ich entspanne mich. Kein Druck mehr. Das „Unangenehme“ akzeptieren, NICHT aushalten! Nach zwei weiteren Tagen läuft alles wieder normal. Geht doch. Anspannung sinkt auf 0. 

Gemischte Gefühle rufen auch ständige Ortswechsel bei mir hervor. Ziemlich nachvollziehbar, wenn man wie ich Sicherheit und Kontrolle bevorzugt, um nicht in Gefahr zu geraten, Fehler zu machen. Unvorhersehbarkeiten sorgen für eine Anspannung bis 8. Im Laufe der 14 Tage geht sie deutlich zurück auf 2.

Meine Höhenangst bearbeite ich schon seit der Zeit in der Tagesklinik. Bouldern zum Einstieg. Aber eine Anspannung bis 10 erlebte ich beim ersten Segelflug meines Lebens. Leider war der Flug zu kurz, um den Abfall der Anspannung deutlich zu erleben. Stolz war ich trotzdem. Beim Wandern in den Bergen Sardiniens merke ich aber, dass ich beim Überqueren eines schmalen Grates mit unfassbar toller Fernsicht gerade noch eine Anspannung von 3 spüre und die Schönheit der Landschaft ungehindert genießen kann. Ich brauche „Höhe“ nicht mehr zu vermeiden. Ich kann sie nun genießen.

Die Angst, nicht selbst Verantwortung für mich und meine Bedürfnisse übernehmen zu können, bearbeite ich schon länger. Viele Gespräche und einige Veränderungen im Zusammenleben mit meinem Mann sorgen schon seit geraumer Zeit für positive Veränderungen. Auf Sardinien organisiere ich einen Reitausflug. Ich vereinbare telefonisch einen Termin und kümmere mich um Fahrräder, um zum Reitstall zu kommen. Früher im Urlaub undenkbar. Für mich war immer klar, dass es die Aufgabe meines Mannes war, mich bei solchen Aktivitäten zu unterstützen. Ich verbuche die Aktion in meinem Kopf als: „Diesen wunderbaren Abenteuerausritt habe ich ganz allein organisiert und durchgeführt. Ich kann für mich und meine Bedürfnisse selbstständig sorgen!“

Aufgabe Konfliktbewältigung

Aufgrund meiner Schemata und Glaubenssätze gibt es bestimmte Trigger, die mir einen Angriff signalisieren. Ich bemerke nicht zuerst den Trigger, sondern die unglaublich starken Gefühle von Verzweiflung und Wut, die in mir aufsteigen. Sie sind mit einem Mal da. Sie überschwemmen mich förmlich. Wenn sich die Wut unvorbereitet in mir ausbreitet, folgt meistens eine unkontrollierbare, weil unbewusste Gegenwehrreaktion. Eine Schutzreaktion, die ich aber nicht immer wahrnehme, weil sie automatisch passiert. Ein lehrreiches Beispiel dafür ereignete sich direkt am Fährhafen noch bevor wir Sardinien überhaupt erreichten.

Nach meinem persönlichen Empfinden wurde die fröhliche Stimmung in unserer Campergruppe getrübt, durch ein vor der Fährübersetzung sehr besorgtes Mitglied der Gruppe. Eine für mich zunächst harmlose Nachfrage meinerseits, führte bei diesem Gruppenmitglied zu einem starken Wutgefühl auf mich. 

Ich bekam das aber gar nicht mit.

Auch meine Frage oder Bemerkung hatte ich eher unbewusst getätigt, so dass ich mich auch später kaum noch daran erinnern konnte.

Als mein Mann mich auf die Wut des Gruppenmitglieds aufmerksam machte, erfasste mich als erste Reaktion ebenfalls übermächtige Wut. Eine Wut, die mich zittern ließ und meine Anspannung direkt auf 10 katapultierte. An dieser Stelle hätte ich den Urlaub am liebsten abgebrochen. Gedanken wie „Er verdirbt die Stimmung und ich soll jetzt schuld sein“ beherrschten mich. 

Vor lauter Wut konnte ich nicht in dem engen Bett bei meinem Mann schlafen. Ich dachte, ich ersticke. Gottseidank hatten wir noch ein Ausklappdachzelt, in dem ich die ganze Nacht wach lag. Wut und später Verzweiflung tobten im Dachzelt um die Wette.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden kam mir der Gedanke, dass meine Äußerung vielleicht sarkastisch geklungen hatte, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ich war mir bewusst darüber, dass mich die schlechte Stimmung des Gruppenmitglieds absolut getriggert hatte, obwohl ich für seine schlechte Stimmung nicht verantwortlich war. Aber, ich wollte Harmonie in diesem Urlaub! Harmonie verspricht Sicherheit! Schlechte Stimmung signalisiert mir Gefahr! Achtung! 

Ich war mir nicht sicher, aber ich zog nun die Möglichkeit in Betracht, dass ich unbewusst einen „Gegenangriff“ durchgeführt hatte, weil ich seine „schlechte Stimmung“ als Angriff empfunden hatte. Das würde ich nur herausfinden, wenn er mir persönlich schilderte, was und wie ich die Dinge zu ihm gesagt hatte und was er dabei gedacht hatte. 

Das war eine absolute Krisensituation für mich. Alles in mir und meinem Körper geht auf höchste Alarmstufe, wenn ich kritisiert werde.

Am nächsten Morgen brauchte ich eine Weile, um Mut zu fassen. Mein Schattenkind weinte und der Impuls wegzulaufen war übermächtig. Meine Anspannung war weiter auf 10! 

Auf das Gespräch bereitete ich mich bewusst vor. „Höre ihm zu!“, „Ausreden lassen! Egal wie schwer es fällt!“ „Lasse ihn ausreden!“

Ohne diese mentale Vorbereitung hätte ich es nicht geschafft, mir seine Vorwürfe bis zuletzt anzuhören. Sein – nach meinem Empfinden – wütender und kalter Gesichtsausdruck in Kombination mit den Vorwürfen gegen mich, waren eine riesengroße Herausforderung. Aber ich hielt es aus.

Er beschrieb MEINEN Gesichtsausdruck und MEINE sarkastische Art und betonte, dass es nicht darum ging, WAS ich gesagt oder gefragt hätte, sondern WIE. DAS hatte ihn unglaublich verletzt.   

In diesem Moment war mir klar, dass er Recht hatte. Ich hatte unbewusst meine Wut über seine Angst und schlechte Stimmung als Angriff auf mein Harmoniebedürfnis und damit auf meine Sicherheit empfunden und einen Gegenangriff gestartet. Aber echt unbewusst. 

Mein Mann wollte mir zu Hilfe eilen und erklärte, dass ich das nicht so gemeint hätte.

Doch, hatte ich. Da war ich mir jetzt sicher. 

Und dann konnte ich es auch erklären. Mir! Und ihm tatsächlich auch! 

Die angespannte Situation wich augenblicklich einem sehr persönlichen Gespräch. Ich bat ihn, mein Verhalten zu entschuldigen und erklärte ihm den Zusammenhang. Ich sagte ihm auch, dass ich nicht garantieren könnte, dass es nicht wieder passieren würde. 

Meine Anspannung sank augenblicklich auf 0! Wir nahmen uns in den Arm und weinten beide. Diese Situation hatten wir gewinnbringend für alle geklärt und es ging uns beiden gut danach. 

Eine weitere Konfliktsituation mit einer völlig anderen Lösung

Mit meiner Wut konnte ich mich auch in einer anderen Konfliktsituation auseinandersetzen, obwohl sie mich gar nicht direkt betraf. Vielmehr wurde ich Zeugin eines Konfliktgesprächs innerhalb der Gruppe. Ich saß nicht dabei, konnte aber zuhören. Im Mittelpunkt der Kritik stand vor allem mein Mann. Ich empfand die Vorwürfe als unglaublich ungerechtfertigt. Das löste augenblicklich wieder eine gewaltige Wutüberflutungswelle bei mir aus.

Meine Anspannung stieg direkt wieder auf 10! Harmonie und damit Sicherheit in allergrößter Gefahr! Und dann noch die gefühlte Ungerechtigkeit! Ich zitterte am ganzen Körper. Niemals hätte ich mich zu der Gruppe setzen können. Niemals, das war mir klar. Ein Angriff von mir, als gefühlte und absolut notwendige Verteidigung wäre augenblicklich und ohne, dass ich es hätte steuern können, erfolgt. 

Ich schaute niemanden an. Ich musste raus aus der Situation. Ich ging allein zum Strand und suchte mir eine einsame Stelle am Meer – immer noch zitternd. Dort – so allein – verwandelte sich die Wut sehr schnell in Verzweiflung. Verzweiflung über diese von mir als schrecklich empfundene Situation. Verzweiflung über die von mir gefühlte furchtbare Stimmung. Tiefe Verzweiflung und Angst verwurzelt in meiner Kindheit, wenn zu Hause die Stimmung kippte. Anspannung immer noch auf 10. 

Aber Verzweiflung ist besser als Wut, denn sie lässt mich weinen. 

Wut nicht. 

Nun konnte ich weinen. So richtiges Weinen. Verzweifeltes Weinen. Schmerzhaftes Weinen. Ich denke oft dabei, ich kann es nicht mehr aushalten und dann wird es plötzlich leichter. Es ist wie „ausschwemmen“. Den Mist „rausschwemmen“. Und ganz plötzlich sinkt die Anspannung. Irgendwann ist meine Anspannung auf 0. Ich fühle mich tatsächlich erleichtert und entspanne mich. Augenblicklich setzt meine Denkfähigkeit wieder ein.

Mit der einsetzenden Denkfähigkeit konnte ich die Konfliktsituation für mich überprüfen. Die Vorwürfe gehörten zu einem anderen Leid. Nicht meinem. Und schon gar nicht lösbar von mir. Ich brauchte es nicht zu meinem Leid machen. 

Es ist unfassbar schwer und schmerzhaft in sein Leid einzutauchen, um es zu spüren, zuzulassen und liebevoll selbstständig und eigenverantwortlich zu trösten. Aber tatsächlich habe ich in diesem Urlaub die Erfahrung machen dürfen, dass genau dann ein Absenken der Spannung in der entsprechenden Situation nachhaltig möglich ist.

Und mein Fazit:

Die Arbeit an mir selbst ist nicht vorbei, aber der Weg ist beschritten und meiner Ressourcen bin ich mir jetzt sehr bewusst. Der Satz „Leiden mit Konzept“ hat sich für mich in diesem Urlaub mit Inhalten gefüllt. 

Dieser Urlaub war unglaublich wertvoll.

Ich bin auf dem Weg, mein Navi funktioniert wieder und ist eingestellt 😉

r